Gedanken zur Domestikation der Wanderratte

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Murx Pickwick
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Gedanken zur Domestikation der Wanderratte

Beitrag von Murx Pickwick » Sa 28. Apr 2012, 19:53

Es wird bis heute postuliert, die Wanderratte (Rattus norvegicus) hätte sich über den Ural ausgebreitet ... nur gibt es an dieser Theorie eine Vielzahl an unerklärlichen Phänomenen.

Fangen wir mal mit der echten Wildform der Ratte an ... die lebte und lebt immer noch friedlich in Südostsibirien, Nordostchina und auf drei japanischen Inseln: Honshu, Shikoku und Kyushu.
Sie ist dort seit Jahrtausenden beschrieben worden, aber es gibt über diesen langen Zeitraum keinen Hinweis, daß sich die Ratte weiter ausgebreitet hätte.

Dann ist die Wildform der Wanderratte ein echtes Waldtier, ähnlich wie unsere Waldmaus. Sie kann sich im offenen Gelände nicht halten, sie braucht Büsche und Bäume. Weite Gebiete zwischen Ural und dem Vorkommensgebiet der Ratten sind jedoch Steppe, offene Landschaft, der Ural ist zudem auch noch ein Gebirge - es sollte also schon aufgrund des Lebensraumes unmöglich für Wanderratten sein, überhaupt nur ohne Transportmittel bis zum Ural zu kommen und noch unmöglicher sollte das Kunststück für sie sein, über den Ural rüberzukommen!

Wanderratten kommen weltweit vor - fehlen jedoch überall dort, wo zwischen ursprünglichen Vorkommensgebiet und Europa die menschliche Besiedelung zu dünn zur Städtebildung ist. Wanderratten kommen fast überall (außer im ursprünglichen Vorkommensgebiet) nur an Gewässern alter Handelsrouten und Städten, großen Dörfern etc vor, also in Gebieten, die sehr stark besiedelt sind.

Man hat Wanderrattenknochen in Schichten aus dem 14. und 15 Jahrhundert gefunden - inzwischen herrscht wissenschaftlicher Konsens, daß diese Fundstücke nachträglich in diese Schichten gelangten, die Ratten sind also für das 14. und 15. Jahrhundert nach wie vor nicht nachgewiesen.

Nachgewiesen ist die Wanderratte jedoch Anfang des 18. Jahrhunderts für Gesamteuropa einschließlich der britischen Inseln, schon 1745 sind Wanderratten eindeutig in Nordamerika nachgewiesen - und das schon in Mengen, die auffielen! Die Einwanderung geschah also sehr plötzlich über wenige Jahre über ein riesiges Gelände - da fragt sich bei der Uralhypothese, warum die Ratten plötzlich, innerhalb weniger Jahrzehnte, als reine Waldbewohner eine derartige Strecke auf sich genommen haben sollen und in Europa einmarschiert sein sollen, nur um sich nur wenige Jahre später aufs Abenteuer Schiff einzulassen und nach Nordamerika tragen zu lassen ... die Schiffshypothese, sie seien auf Handelsschiffen nach Europa gelangt, klingt da schon wahrscheinlicher.

Die Schiffshypothese hat jedoch noch nen anderen Haken ... Schiffshandel zwischen China und anderen Teilen der Welt gab es immer wieder mal, die Araber segelten schon im Mittelalter bis nach China ... warum gelangten in dieser Zeit noch keine Ratten mit Schiffen in andere Teile der Welt?
Einzig die Wanderratten auf den drei japanischen Inseln könnten über Schiffe nach Japan gelangt sein, es könnte sich hier jedoch auch um eine natürliche Besiedlung handeln, das wird man wohl nicht mehr ergründen können.

Beleuchtet man jedoch die Zustände in Europa, insbesondere in England, wird hier plötzlich eine ganz andere Hypothese wahrscheinlicher ... England war das erste Land, bei der es mit der Industrialisierung losging. Das bedeutete einen enormen Zulauf an Arbeitern vom Land in die Stadt. Immer größer werdende Manufakturen brauchten immer mehr Arbeitskräfte, auf dem Land wurden immer mehr Menschen arbeitslos. Mit den Menschen zogen auch Heerscharen von Hausratten und Hausmäusen in die großen Städte und lebten dort von den Abfällen der Menschen, wie sie es seit jeher taten.
Um dieser Rattenplage her zu werden, wurde das Einfangen von Ratten belohnt - und parallel dazu wurden Ratten für eine neu aufkommende, grausame Sportart verwendet, das Ratbiting.
Hausratten eignen sich nur nicht sonderlich zum Ratbiting ... man kann sie schlecht in Käfigen aufbewahren, eine Hausratte, die mit anderen Ratten in einem engen Käfig für nur wenige Stunden gepfercht wird, ist ziehmlich halbtot malade ... da wird schon sehr früh der Wunsch nach was Besserem da gewesen sein.

Zur gleichen Zeit wurden etliche Nager aus aller Welt nach England gekarrt, gewöhnliche wie ungewöhnliche, Nager zu wissenschaftlicher Forschung und zur Haustierhaltung oder einfach nur zum Angeben. Darunter befanden sich mit Sicherheit auch Wanderratten - vielleicht hatte man schon bei der Einfuhr erkannt, daß diese wie Hausratten aussehenden Waldbewohner sich nicht nur viel besser mit Käfighaltung abfanden, sondern sogar in den Käfigen Junge bekamen - also eigentlich ja ideal für die neue Sportart!

Mit den ersten Wanderratten in der Pit war dann auch erwiesen, daß die Wanderratten mit ihrem wehrhaften Wesen deutlich spannender sind und bei weitem nicht so leicht zu erlegen sind von den Hunden, wie die Hausratten - es wurden also keine Hausratten mehr gefangen, sondern Wanderratten gezüchtet - und ganz nebenbei hatte man überzählige Nachzucht der Wanderratten als eingefangene Hausratten abgeben können und Belohnung dafür kassieren können, ohne sich die Mühe zu machen, tatsächlich Ratten zu fangen!

Nach nur wenigen Generationen war die Wanderratte aufgrund der harten Selektion in engen Sammelkäfigen, in denen sie sogar ihre Kinder zur Welt bringen mußten, nachhaltig und unwiederbringlich im Wesen verändert und diese veränderten Ratten kamen immer wieder frei und mußten sich in den Städten, in denen Ratbiting betrieben wurde, bewähren, wurden wieder eingefangen und wieder zum Ratbiting gesammelt und gezüchtet - alle vom Menschen verbreiteten Wanderratten sind nun Stadtbewohner und Nutznießer der Menschen, vom Waldtier ist bei der Wanderratte nicht mehr viel zu spüren, sie bevorzugt Flüsse, Abwasserkanäle, Mülldeponien, Parks mit Hauszugang ... langsam und sicher hatten diese Überlebenden des Ratbiting mit ihren Nachkommen die Hausratten aus den Städten verdrängt und verdrängen nun immer mehr die Hausratten auch aus den dörflichen menschlichen Domizilen.

Schon vor 1877 wurden albinotische Wanderratten gezüchtet, 1970 gab es schon über 100 Inzuchtstämme.
Bis heute entkommen immer wieder Labor- und Farbratten und vermischen sich mit den wildlebenden Populationen, aus den wildlebenden Populationen wiederum wurden bis in die 80er Jahre hinein Ratten entnommen und in Farbrattenstämme eingekreuzt.

Wir haben es also bei der Wanderratte, die nun weltweit vorkommt, mit einer echten, verwilderten Haustierart zu tun ...

Übrigens hatte die harte Selektion in den damaligen Sammelkäfigen für das Ratbiting noch eine Wirkung - es überlebten nur die Ratten, die mit wenig und vor allem minderwertigen Futter klar kamen. Die Ratten wurden mit Abfällen, in Milch eingeweichtem Brot und Abfällen aus der Nahrungsmittelindustrie gefüttert - halt mit allem, wo die Halter und Züchter dieser Ratten billig oder kostenlos rankamen.
Die Ratte gehört heute neben dem Hund zu den Haustieren, die einen erheblichen Kochkostanteil vertragen, ohne davon krank zu werden. Die meisten Ratten vertragen sogar Milch ... klar, wer Durchfall von Milch bekam, hatte mit dem Durchfall nicht so lange überleben können, um diese Empfindlichkeit weiterzugeben ...

So, nun bin ich gespannt, ob hier irgendwer noch Lücken in der Beweisführung entdeckt :D



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